Niemals aufgeben: Was bedeutet das?

26. September 2021

„Giving Up is not an Option – Aufgeben ist keine Option“. So lautet das Mantra, dass sich viele Sportler wiederholt eintrichtern. Auch Profis werden hin und wieder mit solchen Aussagen zitiert und damit im Breitensport gern als Vorbild wahrgenommen.

 

Giving Up is not an Option.

 

Aber was bedeutet es in der Praxis eigentlich, „niemals aufzugeben“? Ich wage hier eine kleine philosophische Rundreise basierend auf meinen eigenen Erfahrungen, die ich in vielen Jahren Triathlon und Ultrarunning gesammelt habe:

● Als erstes drückt es eine positive Durchhalte-Mentalität aus. Einen Wettkampf bis zum Ende durchzuziehen heißt, sich gegenüber anderen keine Blöße zu geben. Man(n) möchte nicht wegen irgendwelchen Kleinigkeiten aufgeben und sich damit gewissermaßen als Weichei outen. Stattdessen wird tapfer das zu Ende gebracht, was angefangen wurde. Dieser Gedanke kann uns im Wettkampf durchaus motivieren und helfen, sich hartnäckiger durchzubeißen, als es im Training oder ohne direkte Konkurrenz möglich wäre. Durch das Wettbewerbsformat pushen sich die Teilnehmer im Idealfall sogar gegenseitig zu ihren persönlichen Höchstleistungen.

● Wirklich wichtig ist aber nicht das, was andere über das Aufgeben denken, sondern wie man selbst dazu steht. So mancher Athlet, der schon mehrere Wettkämpfe vorzeitig beendet hat, ärgert sich nicht nur im Nachhinein darüber, sondern fällt in künftigen Rennen zunehmend leichter in dieses erlernte Muster zurück. Wer dagegen (mit Ausnahme tatsächlicher Verletzungen) noch nie ausgestiegen ist, kann sich in schwierigen Phasen im Wettkampf – und die kommen garantiert – an alle vorherigen Rennen erinnern, in denen er oder sie das Ganze trotzdem erfolgreich ins Ziel gebracht hat. Man weiß also intuitiv, dass nach jedem Tief wieder ein Hoch kommt und kann so jeden Gedanken ans Aufhören schnell wieder abschütteln. Das ist ein großer mentaler Vorteil.

● Das bringt uns zum dritten und entscheidenden Punkt: Was man in einem bestimmten Moment denkt, im Positiven wie im Negativen, ist Schall und Rauch. Es sind lediglich wilde Szenarien in unserem Kopf, die in der Vergangenheit oder Zukunft spielen. Ganz im Unterschied dazu stehen unsere Werte, nach denen wir wirklich handeln und mit denen wir Realitäten schaffen. Und zu diesen Werten zählt eben auch, niemals aufzugeben. Das ist mehr als nur ein Mantra, das man sich eintrichtert, da es ein Teil der eigenen Identität wird: „Ich bin jemand, der zu Ende bringt, was er angefangen hat.“ Mit dieser Identität ist das Durchhalten kein bloßer Gedanke, sondern fast schon automatisch ein Teil des eigenen Handelns und damit etwas ganz Reales.

 

Ich bin jemand, der zu Ende bringt, was er angefangen hat.

 

Niemals aufzugeben bedeutet aber noch mehr, als seine Rennen zu Ende zu bringen. Vor allem für gute Ergebnisse und Platzierungen ist es entscheidend, im Rennverlauf nicht mental nachzulassen und sich vorzeitig mit einer bestimmten Platzierung abzufinden. Auch das wäre eine Art der inneren Aufgabe, bei der man sich nur noch nach hinten gegen Konkurrenten absichert und so unter seinem eigenen Potenzial bleibt. Strategisch mag das sinnvoll sein, wenn man sicher weiß, dass nach vorn nichts mehr geht. Aber gerade in Ultra-Wettkämpfen kann man in den seltensten Fällen davon ausgehen.

Anhand von drei Wettkämpfen möchte ich verdeutlichen, wie diese Punkte in der Praxis aussehen.

 

Durchkämpfen

Beim SachsenTrail herrscht im Jahr 2020 eine brutale Hitze, und noch dazu wurde der Streckenverlauf gegenüber den Vorjahren verschärft. Erschwerend kommt hinzu, dass es praktisch der erste richtige Wettkampf seit Corona ist, und entsprechend viele gute Läufer aus dem ganzen Land angereist sind. Das bekomme ich gleich nach dem Start zu spüren, als die Spitzengruppe schnell außer Sichtweite gerät. Da ich den Rundkurs kenne, weiß ich aber, dass es knüppelhart werden kann, diesen zweimal zu laufen. Deshalb halte ich mich an meinen Plan, das Rennen relativ moderat anzugehen.

Bei der Hälfte der Strecke liege ich auf Platz 10. Das ist eine ziemliche Enttäuschung gegenüber meinen Zwischenplatzierungen in den Vorjahren. Doch als ich auf die zweite Runde gehe, sehe ich einen der Favoriten, der das Rennen beendet. Das überrascht mich. Ich überlege, ob andere vielleicht auch zu schnell gestartet sind und deshalb „platzen“. Gleichzeitig spüre ich jetzt auch die Anstrengung und werde gegenüber der ersten Runde langsamer. Trotzdem kann ich unterwegs einige weitere Läufer überholen, die zum Teil völlig fertig sind und nur noch wandern können.

 

Ich sehe einen der Favoriten, der das Rennen beendet.

 

Die letzten 20 km werden aber auch für mich hart: Ich habe kaum noch Kraft und Energie, was am Ende eines Ultras halbwegs normal ist, aber vor allem zu wenig getrunken. Das ist überhaupt nicht gut. Der Mund ist ausgetrocknet und der Körper dehydriert. Aber irgendwie schleppe ich mich trotzdem durch und denke dabei an die erlösende Ziellinie. Am letzten Anstieg überhole ich dann sogar den Drittplatzierten und kann mir damit völlig unerwartet noch einen Podestplatz sichern! Gerade in Rennen, bei denen die Bedingungen besonders hart sind, kann es also sehr lohnenswert sein, sich durchzukämpfen. Man weiß nie, was am Ende noch daraus wird.

 

Den Sirenen widerstehen

Südthüringentrail, die Deutsche Meisterschaft im Ultratrail, Start 5 Uhr morgens. Ich habe im Zelt übernachtet und nur eine oder zwei Stunden geschlafen. Es ist stockfinster und neblig, später fängt es zu regnen an. Meine Schuhe sind durchnässt und schwer, das Shirt klebt an der Haut. Es geht eine steile Skipiste hinauf und ebenso steil wieder hinunter. Wie bei jeder Meisterschaft ist das Feld stark besetzt und ich liege sogar außerhalb der Top 10. Schon nach etwa 15 km kommt der mentale Tiefpunkt: „Was mache ich hier eigentlich?! Kann ich jetzt wirklich noch 50 km laufen, ohne völlig abgeschlagen im Ziel anzukommen? Sollte ich nicht lieber gleich alles hinschmeißen?“

 

Was mache ich hier eigentlich?!

 

Wenn die Lage aussichtslos bzw. sinnlos scheint, klingt es im Kopf fast wie ein Witz, zu sagen, dass man niemals aufgibt. Doch das sind nur Gedanken, die mir einen Streich spielen wollen, sie sind nicht real. Real ist nur das, was ich wirklich mache! Und dazu habe ich eine klare Linie, ein selbst auferlegtes Gesetz: Mit Ausnahme wirklicher Verletzungen – was erst einmal der Fall war – werde ich niemals ein Rennen abbrechen, egal wie beschissen es läuft. Notfalls wandere ich ins Ziel. Ein Ausstieg steht also in der Realität überhaupt nicht zur Wahl. Er geistert nur eine Weile als Gedanke durch meinen Kopf und verschwindet dann so plötzlich, wie er aufgetaucht ist. Und währenddessen schützt mich meine klare Linie davor, dem „Gesang der Sirenen“ zu widerstehen, die mich wie Odysseus der Legende nach vom richtigen Kurs abbringen wollen.

Ich akzeptiere also die Tiefs, die ich bei der Anmeldung zum Rennen automatisch mit gekauft habe, als eine neue Chance, persönlich wieder ein bisschen daran zu wachsen. Und das ist etwas sehr Positives! Im Nachhinein, wenn man die Ziellinie überquert, ist genau dieses Überwinden von Schwierigkeiten das Entscheidende, was das unbeschreibliche Finisher-Gefühl überhaupt ausmacht. Die zwischenzeitlichen Zweifel wirken dann plötzlich wie lächerliche Einbildungen, die uns vom Erfolg abbringen wollten – und wie würden wir es im Nachhinein bereuen, diesen Witzfiguren gefolgt zu sein!

Die Vorstellung der späteren Reue ist ein Grund dafür, weshalb das Visualisieren des Zieleinlaufs ein mächtiges Tool ist, um bei Tiefs im Rennverlauf neue Hoffnung zu schöpfen: Es gibt Gewissheit, dass alles vorübergeht, und als Handlung nur eine Wahl bleibt: Weiter, weiter, immer weiter! Denn allein dadurch, dass man trotz allem weiter macht, steigt auch das Selbstvertrauen wieder an. Und ein besonderes Erlebnis abseits des sterilen Büroalltags sowie eine gute Trainingseinheit ist jeder abgeschlossene Wettkampf rückblickend sowieso, egal mit welchem Ergebnis.

 

Immer nach vorn orientieren

Die dritte Geschichte handelt vom Borderland Ultra. Hier liege ich lange Zeit auf Platz 5, nachdem die beiden Läufer vor mir auf den ersten 30 km zunehmend außer Sichtweite gerieten. In den Beinen steckt auch noch der letzte Wettkampf vor 2 Wochen. Da nach hinten einige Minuten Luft sind, kommt in meinem Kopf für eine ganze Weile der Gedanke auf, etwas Druck rauszunehmen und mich vorzeitig mit Platz 5 zufrieden zu geben. Doch auch das wäre eine Art von Aufgeben bzw. Resignieren, die noch schwieriger auszublenden ist als ein Komplettausstieg aus dem Rennen. „Mehr war nicht drin, nimm etwas Tempo raus“ – das klingt wie Musik in unseren Ohren, wenn wir am Limit sind. Doch es ist wieder der verführerische Gesang der Sirenen.

 

Mehr war nicht drin, nimm etwas Tempo raus.

 

Nach meinen bisherigen Erfahrungen sieht das wahrscheinlichere Szenario aber ganz anders aus: Je länger und schwieriger die Strecke, desto öfter habe ich besonders gegen Ende eines Rennens noch aufgeholt. Außerdem weiß ich, dass auf den letzten 20 km viele Höhenmeter warten, ein Abstand von wenigen Minuten also schnell gewonnen oder verloren werden kann. Und obwohl ich mich selbst nicht mehr besonders stark fühlte, kann das trotzdem ein relativer Vorteil sein: Was, wenn einer der vorderen Läufer zu Beginn überzockt hat und nun das Tempo reduziert, um seine Position ebenfalls nur noch nach hinten abzusichern, oder sogar einen richtigen Einbruch erleidet? All das ist nichts Ungewöhnliches bei einem Ultralauf! Es kann sein, dass sich das Blatt kurz vor Schluss plötzlich noch wendet.

Und tatsächlich kommt es genau so: Nur deshalb, weil ich am Limit bleibe, kommen die beiden Läufer vor mir wieder ins Blickfeld und ich kann an den steilsten Stellen langsam aufschließen. Nach einigem hin und her, knapp auf Platz 3 liegend und mit der Angst eines erneuten Überholmanövers hole ich am Ende nochmal alles aus den Beinen raus und bringe Platz 3 ins Ziel. Das war vor allem ein mentaler Erfolg, der wieder etwas mehr Selbstvertrauen gibt, das Tempo auch in Zukunft gegen die Erschöpfung noch hoch zu halten, wenn es darauf ankommt.

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